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Kein Einstein!
Albert's Geschichte

Warum passiert es, dass ein Mensch, der mit beiden Füßen im Leben steht, der sich noch soviel vorgenommen hat, nun ein Leben lang ein schwerstbehindertes Kind versorgen muss? Wir glauben, wir wurden einfach dafür bestimmt, weil wir dazu fähig sind!

Es gibt so viele Dinge, die ich nicht begreifen kann, und hinter die ich wahrscheinlich auch nie steigen werde! So frage ich mich manchmal, warum waren ich und mein Mann ausgerechnet am selben Tag in der selben Diskothek? Warum fuhren wir, als wir uns kennen lernten, haargenau das gleiche Auto? Ist es das defekte 11. Chromosom in unserem Körper, das uns zusammenfinden ließ? War es Zufall, dass sich ausgerechnet im August 1996 unsere defekten Chromosomen gepaart haben?

Warum ist man in der Forschung noch nicht soweit, dass der genetische Code des Menschen geknackt werden konnte? Fehlen die Gelder, oder ist es wirklich so kompliziert? Da schießt man Satelliten ins All und erforscht den Mars aber Erbkrankheiten rechtzeitig erkennen, das kann man noch nicht! Es werden Organe transplantiert, Gliedmaßen künstlich hergestellt, Männer mit Glatze erfreuen sich wieder am Haarwuchs, die Chirurgie kennt in Sachen tolles Aussehen keine Grenzen - nur unser behindertes Kind wird nicht mehr gesund! In einer Zeit, in der nichts mehr ohne Bits und Bytes läuft, da haben wir ein schwerstbehindertes Kind! Ein Kind, das sich mit Sicherheit nie alleine ernähren kann, sich kein Haus bauen kann, keine Familie gründen kann. Es ist nicht vorstellbar, aber es ist so! Keiner wird unseren Sohn so herstellen können, dass er jemals ohne fremde Hilfe überleben kann.

Nach einer völlig normalen Schwangerschaft, rückte der Geburtstermin immer näher. Ich wusste, dass es ein Junge wird und wir einigten uns auf den Namen Albert. Gemeinsam meisterten wir die Entbindung und die Hebamme taufte unser Baby gleich "Einstein". Doch schon im Kreißsaal gab es kleine Probleme, er atmete nicht richtig, schrie nicht wie die anderen, er war einfach irgendwie anders. Ein Arzt wurde gerufen, aber er bemerkte nichts außergewöhnliches. Während der 6 Tage auf der Entbindungsstation merkte ich, dass mein Sohn, gegenüber den anderen Babys nur schlief und ganz schlecht trank. Man stellte eine Missbildung am Penis fest und eine Muskelschlaffheit. Ich wurde dann ganz normal entlassen und versuchte mein Glück mit der Flasche zur Hause. Es war katastrophal, unser Sohn hatte einfach keinen Hunger. Bis er im Alter von 14 Tagen wieder in das Krankenhaus musste. Hier wurde er künstlich ernährt, zum Muskelaufbau beturnt und von oben bis unten durchgecheckt. Keiner konnte uns sagen, was mit unserem Sohn los ist. Wir hörten was von einer Muskelkrankheit, dann wieder etwas von einer Erbkrankheit, von Entwicklungsstörungen, einer Lebenserwartung von ca. 6 Monaten und und und. Täglich waren wir im Krankenhaus. Damit wollten wir erreichen, dass er uns erkennt, irgendwann merkten wir aber, dass sich an seinem allgemeinen Zustand nichts änderte. Er trank zwar etwas besser, hatte auch zugenommen, aber er guckte uns nie an, reagierte auf keine Geräusche, lag immer nur ganz blass und auffällig schlaff in seinem Bettchen.

Irgendwann hielten wir diesen Krankenhaus-Stress nicht mehr durch und wir nahmen unseren Sohn nach Absprache mit der Ärztin zur Probe mit nach Hause. Komischerweise ging an diesen "Probetragen" alles gut. Er nahm innerhalb von 3 Tagen 150 g zu und konnte zu Hause auch ganz toll trinken. Wir durften ihn zu Hause behalten. Dann jedoch ging alles wieder von vorne los. Albert trank einfach nicht aus der Flasche. Ich habe alle Nahrungen und alle Sauger durchprobiert, es half nichts. Da er zum Glück nicht abnahm, konnte ich ihn zu Hause behalten. Es war schrecklich, überall die glücklichen Eltern zu sehen, wie sie sorglos mit ihrem Kinderwagen durch die Gegend fuhren, während ich zu Hause versuchte, schluckweise Milch in seinen kleinen Mund zu bekommen.

So brauchte ich manche Mahlzeiten für 200 ml 1 1/2 Stunden! Danach konnte ich die nächste Mahlzeit wieder vorbereiten.

Zwischendurch musste ich mit ihm dann aber auch noch zur Physiotherapie, zum therapeutischen Schwimmen, zur Frühförderung, zum Hörtraining, Kinderarzt, Augenarzt, HNO-Arzt, Neurologen, Kardiologen, Kieferorthopäden, Hautarzt, Orthopäden, zur Kinderchirurgie, Humangenetik, zum Ultraschall, CTG, EEG, ins Schlaflabor und sogar zum Homöopathen (weil ich dachte, hier gibt es eine Lösung für seine Entwicklungsverzögerung) ... es nahm kein Ende und irgendwo im Wartezimmer oder im Auto immer der Kampf mit der Flasche ... Keine Zeit mehr für Freunde, Verwandte und vor allem für uns und Alberts große Schwester.

Als Albert 10 Monate alt war, gaben wir uns mit seiner Entwicklung und den Auskünften der Ärzte nicht mehr zufrieden, ein Freund besorgte uns an einer Uni-Klinik einen Termin. Endlich wurden wir nach diesem Klinikwechsel nicht mehr enttäuscht. Hier wurden noch mehr Merkmale bei Albert gefunden, die auf eine Erbkrankheit hindeuten konnten. Außer der Missbildung am Penis (Hypospadie) noch im Ansatz 3 zusammengewachsene Zehen (Syndaktylie), tiefsitzende Ohren, ein zu kleiner Kopf (Mikrozephalie), abnorme Handfurchen und ein zu kleines Kinn (Mikrogenie) (Natürlich sind uns einige dieser Sachen selbst vorher auch schon aufgefallen, aber das dies Merkmale einer Erbkrankheit sind, war uns natürlich nicht bewusst.) Und man untersuchte auch einmal uns als Eltern und dadurch stellte sich heraus, was mit unserem Sohn nicht stimmt. Durch ein ausländisches Labor wurden wir aufgeklärt: Unser Sohn hat eine Erbkrankheit, das Smith-Lemli-Opitz-Syndrom. Das defekte 11. Chromosom verursacht, dass der Körper selbst kein Cholesterin produziert. Diese gestörte Cholesterinbiosynthese bewirkt, dass einige lebensnotwendige Funktionen gestört sind. Durch den Cholesterinmangel wurde also eine geistige und körperliche Schädigung schon im Embryoalter ausgelöst.

Trotz der modernen Medizin konnte in der Schwangerschaft nichts festgestellt werden. Wonach sollte man auch suchen? Wer kann schon ahnen, dass wir Eltern beide einen Chromosomenfehler haben! Bei nur einem defekten Chromosomen, dominiert nämlich das Gesunde und die Krankheit kommt nicht zum Ausbruch. Und da wir beide kerngesund sind und sämtliche Familienmitglieder soweit man zurückdenken kann auch, gab es keinen Anlass, nach Erbfehlern zu suchen. Um die Kreuzung dieses Chromosomens noch einmal zu verdeutlichen, möchte ich folgende Zeichnung als Beispiel bringen:



Was für ein Zufall! Oder sollte es so sein? Ist es Schicksal, dass ausgerechnet wir, - mein Mann und ich - uns getroffen haben? Haben wir durch unseren Chromosomenfehler so viele Gemeinsamkeiten, das wir uns zusammengefunden haben und lieben? Vielleicht ist es also doch kein Zufall. Wir wissen es nicht und eigentlich ist es uns jetzt auch egal. Sollten wir jedoch noch einmal ein Kind bekommen, so kann man jetzt gezielt nach dieser! Krankheit suchen.

Der Schreck in "Der Stunde der Wahrheit" war groß. Wir erfuhren, dass unserem Kind eigentlich nicht zu helfen ist. Durch Cholesterinzufuhr in Pulverform können wir den Cholesterinmangel zwar ausgleichen, aber die geistige und körperliche Störung ist und bleibt vorhanden. Mein Mann war stark, er ließ sich nicht anmerken, dass es ihn traurig stimmt, ein behindertes Kind gezeugt zu haben, ich dagegen weinte ohne Ende, ich wusste, nun bin ich ein Leben lang halbtot!




Albert ca. 3 Jahre alt

Wir erkundigten uns nach gezielten Therapien und anderen Möglichkeiten, um unseren Sohn zu fördern. Wir haben in den letzten 2 Jahren sehr viel erreicht, auch wenn meine Nerven manche Tage und Wochen nicht mehr mitmachten. Einige hatten viel Verständnis dafür, andere ließen uns hängen. Wir freuen uns über jeden noch so kleinen Fortschritt und ärgern uns über jede schlaflose Nacht oder ausgebrochene Mahlzeit.

Unser Sohn ist genauso unser Liebling wie meine 10jährige Tochter, er kann genauso lachen wie andere Kinder und darüber sind wir glücklich. Auch wenn es fraglich ist, ob er jemals seinen Kopf alleine halten kann, ob er Sitzen, Stehen oder sogar Laufen lernen wird. Bis jetzt gibt es keine Anzeichen dafür. Er kann sich jetzt alleine drehen und in der Bauchlage seinen Kopf hochhalten, auch aus der Rückenlage kann er seinen Kopf anheben. Wenn wir an ihm vorbeigehen, guckt er uns manchmal nach. Ob er uns als Eltern erkennt, können wir nicht sagen. Da Albert auf keine Geräusche reagiert, nehmen wir an, dass er nicht hören kann. Leider konnte dies noch nicht 100 %ig festgestellt werden. Albert kann jetzt Brei ohne Stückchen vom Löffel essen. Es wurde wochenlang versucht, ihm das Kauen beizubringen. Jeder, der ein gesundes Kind hat, kann sich nicht vorstellen, was dies für eine Schwierigkeit ist, leider hat es nichts gebracht. Seit ein paar Monaten kann Albert greifen. Es sieht zwar sehr schwerfällig aus, aber er kann es. Wochenlang gab es nur einen kleinen Ball, den er anfassen konnte, inzwischen kann er viele Dinge greifen. Manchmal frage ich mich, ob Albert überhaupt weiß, dass es seine Hand ist, die da zugreift! Das Spielzeug, das Albert anfasst, guckt er sich an, oft minutenlang.

Leider ist bis heute nicht bekannt, ob die Zuführung von Cholesterin Fortschritte in der Entwicklung bringt. Da es in Deutschland nur sehr wenig bekannte Kinder mit dieser Krankheit gibt, wird bedauerlicherweise auch nicht sehr viel in der Forschung getan. In den USA ist man da schon etwas weiter. Zum Glück hat unsere behandelnde Ärztin sehr gute Kontakte dorthin.

Wir können inzwischen mit der Behinderung ganz toll umgehen. Erstaunlicherweise kann dies auch Alberts Schwester. Auch sie beschäftigt sich so gut es geht mit ihm. Wir versuchen, genauso viel Zeit für sie zu haben, aber wir schaffen es nicht! Albert braucht uns rund um die Uhr! Sicherlich kommt sie etwas zu kurz, aber wir versuchen, auch ihre Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen und bis jetzt ging es wirklich sehr gut. Entgegen meinen Befürchtungen bringt sie auch in der Schule nur gute und sehr gute Zensuren mit nach Hause!

Was uns Eltern sehr zu schaffen macht, ist der Kampf mit den Behörden! Es ist teilweise katastrophal, wirklich zum verzweifeln! Alle Eltern behinderter Kinder können hier sicherlich mitreden! Über Mitarbeiter in Behörden und meinen Kampf mit den Gesetzen könnte ich fast ein Buch schreiben! So erlebte ich z. B., dass eine Mitarbeiterin einer Behörde das Wort Erbkrankheit mit "p" schrieb, in dem Glauben es sei richtig! Mir wurden Zuschüsse abgelehnt, die mir lt. Gesetz 100 %ig zustanden! Nach mehreren Widersprüchen bekam ich endlich eine Zusage! Ich bekam von meiner Krankenkasse Briefe, in denen folgendes stand: "Lieber Albert, nun bist Du schon ein halbes Jahr und schaust Dir vergnügt Deine kleine Welt an. Du greifst nach Mamis Locken oder Papis Brille, hörst, wenn es klingelt, erkennst Stimmen und lachst gern. Um sicher zu sein, dass Du weiter gesund heranwächst, wird es wieder Zeit für einen Besuch in der Arztsprechstunde zur 5. Früherkennungsuntersuchung. Es wird Dir bestimmt gefallen, den Erwachsenen zu zeigen, dass Du Dich schon alleine auf den Bauch drehen, gut hören und Dein Lieblingsspielzeug festhalten kannst. Wenn wir Dir das nächste Mal schreiben, kannst Du bestimmt schon auf Deinen eigenen kleinen Beinen stehen." Als ich diese Zeilen las, traf mich wirklich der Schlag. Erst nach einer Beschwerde beim Behindertenbeauftragten unserer Stadt wurde diese regelrechte Verarschung eingestellt! Trotz allem habe ich aber auch Angestellte in Behörden erlebt, die mit mir zusammen weinten, weil ich ihnen meine Situation schilderte.

Ein Faxgerät und einen Kopierer (Scanner) habe ich mir angeschafft, als ich merkte, das man ohne dieses nicht mehr auskommt, wenn man ständig mit Behörden zu tun hat, und vor allem abhängig von diesen ist. Leider wird bei einigen Institutionen ein Brief per Fax nicht anerkannt, d. h. einige Behörden wollen immer ein Original sehen! Ansonsten spart es Zeit und vor allem Geld!

Ich denke, dass ich alle Mittel, Zuschüsse und Vergünstigungen ausschöpfe, die unser Staat für Behinderte und ihre Angehörigen bietet. Leider können das aus den verschiedensten Gründen nicht alle Eltern - hier sollte noch viel getan werden. Inzwischen bin ich Leiterin einer Elterngruppe in meiner Stadt und habe gemerkt, wie viele Eltern auf diesem Gebiet Hilfe und Unterstützung brauchen. Ich habe Eltern mit schwerstbehinderten Kindern kennen gelernt, die nicht einmal eine Pflegestufe hatten!

Bevor Albert geboren wurde, redeten wir hin und wieder einmal über das Aussteigen aus dieser computergesteuerten Gesellschaft! Wir stellten uns ein Leben in einer Hütte im Wald mit Selbstversorgung etc. vor. Durch die Geburt von Albert hat sich dieser Traum natürlich zerschlagen. Denn wir brauchen unsere Eltern, Ärzte und Therapeuten - sie sind für Albert lebensnotwendig, genauso wie Alete, Hipp und Pampers ...

Wir sind der Meinung, dass Albert ohne Ärzte, Maschinen und Spezialernährung eventuell nicht überlebt hätte. Oft haben wir darüber nachgedacht, was dann gewesen wäre. Hätten wir diesen Verlust jemals überwunden, oder wäre es für alle eine Erleichterung gewesen? Vor einiger Zeit kam mir das Buch "Muss dieses Kind am Leben bleiben?" in die Hände. Es gab Seiten in diesem Buch, da konnte ich kaum weiterlesen, so schockiert war ich vom Denken und Handeln mancher Länder, Völker und Stämme auf dieser Welt, aber wenn man richtig darüber nachdenkt, kommt schon die Frage auf, wie z. B. Eskimos ein schwerstbehindertes Kind durchbringen sollen! Auch habe ich irgendwie die Eltern verstanden, die in diesem Buch über ihr Handeln berichten. Hierzu muss ich sagen, dass einige dieser Eltern vom Zeitpunkt der Geburt an wussten, dass ihr Kind keine Überlebenschance hat. (Weitere Ausführungen möchte ich nicht beschreiben, aber wer interessiert ist: Dieses Buch ist sicherlich in Bibliotheken zu haben!) Wir jedenfalls haben ganz bestimmt bis jetzt alles für Albert getan, was unsere Kräfte, Nerven und auch unsere Geduld hergaben und wir glauben, dass es richtig war! Denn trotz der riesigen Belastung können wir uns ein Leben ohne Albert nicht mehr vorstellen. Er wird sein Leben lang Hilfe benötigen und solange wir für ihn sorgen können, werden wir für ihn da sein - GANZ SICHER!!!

Albert ist jetzt fast 4 Jahre und in unserer Familie nicht mehr wegzudenken. Er gehört, so wie er ist, mit dazu!

Ohne Namen zu nennen, möchten wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bei meinen Eltern, Schwiegereltern, Freunden und Bekannten für Verständnis und Entgegenkommen bedanken. Unseren Ärzten und Therapeuten danken wir für die zahllosen Untersuchungen und Therapiestunden, ohne die unser Sohn niemals so geworden wäre, wie er jetzt ist.

Ich würde mich freuen, wenn sich Eltern melden würden, die auch ein Kind mit diesem Syndrom haben. Der Austausch mit den anderen betroffenen Eltern bei unserem 1. SLOS-Treffen hat unserer ganzen Familie viel gebracht.

Gern können sich auch Therapeuten melden, die Kinder mit dieser Krankheit therapieren wollen, vielleicht kann ich ja weiterhelfen.

Iris Hantel
(März 2001)

Delfintherapie 2006